BRICS-Staaten im Gegenwind
Der einstige globale Wachstumsmotor ist ins Stottern geraten
Die ökonomische und politische Grosswetterlage der BRICSGruppe verändert sich. Es wird stürmischer über dem bis anhin tiefblau prognostizierten Himmel der einstigen Wachstumsprimusstaaten. Warum es ratsam ist, nicht gleich auf jeden Beschaffungshype aufzuspringen.
Noch vor wenigen Jahren galten die damaligen vier BRICStaaten Brasilien, Russland, Indien und China als das neue globale Zentrum der Ökonomie. Die Aussicht auf eine nicht versiegen wollende Wachstumsoase versetzte die Mehrzahl der Experten weltweit in Verzückung. Doch die Ernüchterung setzte früher ein als viele für möglich gehalten hätten.
O’Neill und die Kristallkugel
Jim O’Neill, bis 2013 Chefökonom der USamerikanischen Investmentbank Goldman Sachs, verwendete 2001 in einem Bericht zum ersten Mal das Kürzel BRIC. BRIC stand für Brasilien, Russland, Indien und China – und deckte damit die grössten Märkte innerhalb der Schwellenländer ab. O'Neill hat unter Ökonomen den Ruf, ein Kenner der Entwicklungs und Schwellenländer zu sein. Er prognostizierte, dass die vier Länder gemeinsam bis 2050 die G7 Staaten – die sieben bedeutendsten Industrienationen der Welt – in puncto Wirtschaftskraft überholen. Durch die Aufnahme von Südafrika 2010 änderte sich zum einen der Name in BRICS – und der repräsentierte Anteil an der Weltbevölkerung stieg auf etwa 40 Prozent. Doch der einst vielgepriesene BRICSWirtschaftsdampfer ist mittlerweile in arge Schieflage geraten.
Brasilien, Russland und Südafrika
Die seit Mitte 2014 fallenden Rohstoffpreise haben auch in Brasilien Spuren hinterlassen. Wobei hier die Probleme tiefgründiger liegen. Die Wettbewerbsfähigkeit hat über die Jahre abgenommen. Unter anderem hervorgerufen durch die höchste Inflation seit 13 Jahren und den entsprechend schwächeren internationalen Handel. Das hat neben einer Wirtschafts- auch eine tiefe politische Krise ausgelöst. Der Rückhalt der Regierung Rousseff in der Bevölkerung schwindet zusehends, und die Protestbewegungen nehmen massiv zu.
Der gewaltige Korruptionsskandal von möglichen Zahlungen an Politiker bei Auftragsvergaben zeigt auf, dass die linke Arbeiterpartei, die seit 2003 regiert, die Korruption nicht erfolgreich bekämpfen konnte. Russland unter Putin verharrt weiterhin in der Rezession. Vor allem aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen – unter anderem mit der Ukraine – und den dadurch verhängten Sanktionen, die die «Bewegungsfreiheit» des flächenmässig grössten Staates der Erde massiv einschränkt.
Auch das jüngste Mitglied der Gruppe, Südafrika, lässt eher durch negative statt positive Nachrichten aufhorchen. Das Land befindet sich seit der Fussball WM 2010 im permanenten ökonomischen Sinkflug. Unter anderem wegen innenpolitischen Eskapaden, dem Einbruch der Rohstoffpreise sowie dem Nachfragerückgang nach Rohstoffen vom grössten Handelspartner China.
Indien der schlummernde Riese
Dass Indien einen gewaltigen Nachholbedarf hat und vor riesigen Herausforderungen bei der Bekämpfung der Armut sowie in der Bildungs- und Infrastrukturentwicklung steht, ist unbestritten. Knapp 70 Prozent aller Inder leben auch heute noch in ärmsten Verhältnissen auf dem Land und müssen mit weniger als zwei USDollar pro Kopf und Tag über die Runden kommen. Jährlich drängen 12 Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt, wo nur gerade 4,5 Millionen Ausbildungsangebote von meist eher geringer Qualität zur Verfügung stehen.
Die in jüngster Zeit trotz struktureller Mängel wieder gewonnene Dynamik der Wirtschaft, mit einem Wachstum von annähernd 7,4 Prozent, positioniert das Land im Vergleich mit den anderen Gruppen mitgliedern besser. Zum Wachstum beigetragen hat vor allem der Dienstleistungssektor mit mehr als 60 Prozent Anteil am BIP, wobei nur etwa 30 Prozent der beschäftigten Bevölkerung davon profitieren kann. Die Regierung Modi steht seit Mai 2014 für eine effizientere und wachstumsorientiertere Führung mit dem Credo «Make in India». Die lähmende Bürokratie, die riesigen Defizite im Infrastrukturbereich, das mangelnde Umwelt und Qualitätsbewusstsein sowie die teilweise Nichtbeachtung ethischer Grundsätze zeigen, dass Indien seine Hausaufgaben noch nicht gemacht hat.
Chinas «neue Normalität»
Die Volksrepublik gilt innerhalb der BRICSGruppe noch immer als stabiler Fels in der Brandung. Trotz weltweitem Wehklagen verzeichnet China nach wie vor beindruckende Wachstumsraten – 2015 waren es 6,9 Prozent – und gilt als Wachstumslokomotive innerhalb der Schwellen und Entwicklungsländer. Die aktuelle Situation darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Land weitere Reformen umsetzen muss. Die Modernisierung der Produktionsstrukturen, der Abbau von Überkapazitäten oder die Steigerung der Innovationsfähigkeit sind nur einige Themen, die weiterverfolgt werden müssen. Das Bestreben der Regierung, die ungleiche Verteilung des Einkommens zu verringern, indem die Löhne der Landbevölkerung und der Wanderarbeiter stetig erhöht werden, wird sich auf die Kostenentwicklung des Landes auswirken.
Fazit
Die BRICSStaaten als «sinkendes Schiff» zu bezeichnen wäre falsch. Nach wie vor sind partiell grosse Potenziale in einigen dieser (Beschaffungs)Märkte auszumachen. Die zum Teil prekäre Lage der einzelnen Mitgliedstaaten erfordert vom Einkauf jedoch vermehrt, die jeweiligen Entwicklungen genaustens zu be obachten, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Nur so können Trendszenarien frühzeitig antizipiert und die globale Beschaffungsstrategie darauf ausgerichtet werden.
Es ist ratsam, nicht gleich auf jeden neuen Beschaffungshype aufzuspringen. Vielmehr lohnt es sich, eine Beschaffungsstrategie mit längerfristigem Ansatz zu entwickeln, die über den Einkaufspreis hinaus geht und auch Kriterien wie Infrastruktur, politische Stabilität, Öffnung eines Landes und das Angebot an Fachkräften mitberücksichtigt.
Autor: André Leutenegger
Veröffentlicht: Verein procure.ch
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